Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Ortsgruppe Diepholz

Interview: Zugang zu Mobilität bedeutet Selbstbestimmung

Prof. Dr. Claudia Hille ist eine der ersten Radverkehrsprofessorinnen in Deutschland und spricht im Interview darüber, was Menschen vom Radfahren abhält und was Radfahren mit gesellschaftlicher Teilhabe zu tun hat.

Radverkehrsprofessorin Dr. Claudia Hille auf dem Fahrrad.
Dr. Claudia Hille ist Radverkehrsprofessorin an der Hochschule Karlsruhe. © Fotoloft Erfurt

Frau Prof. Dr. Hille, fahren Sie selber gerne Fahrrad im Alltag?
Ich fahre sehr gerne und fast ausschließlich Fahrrad, auch unabhängig vom Wetter. Ich besitze kein Auto, nutze nur gelegentlich Carsharing und fahre sehr selten mal Straßenbahn, zum Beispiel wenn mein Rad einen Platten hat. Ich liebe das Fahrradfahren auch, weil es das schnellste Verkehrsmittel im Alltag ist. Das zeigen auch Studien, dass bis zu einer Strecke von fünf Kilometern das Fahrrad das schnellste Verkehrsmittel im urbanen Raum ist. 

Außerdem ist das Fahrrad ein individuelles Verkehrsmittel, das mir viel Freiheit lässt. Es ist nicht so beengt wie in der Straßenbahn und Autofahren wäre mir einfach viel zu stressig mit der Parkplatzsuche. Das leitet ganz gut über zu meiner Professur. Denn mir und meinem Team geht es mit der sozialwissenschaftlichen Perspektive vor allem um die Menschen auf dem Fahrrad – ihre Einstellungen und Motive für die Radverkehrsnutzung, was sie antreibt und was sie davon abhält, Fahrrad zu fahren.


Was sagt die Forschung über die größten Hindernisse für Menschen, das Fahrrad täglich zu nutzen?
Es sind zwei Punkte. Zum einen ist es natürlich die Infrastruktur. Menschen empfinden diese oft als unsicher. Der andere Punkt, der bei uns im Fokus steht, ist das Thema Routinen und Gewohnheiten. Die klassische Routine ist in Deutschland im Moment eben, nicht auf das Fahrrad, sondern in das eigene Auto zu steigen. Der Großteil der Bürgerinnen und Bürger ist auf das Auto getrimmt. Wenn dies bezahlt ist und vor der Tür steht, dann wird es eben auch genutzt. 

Gleichzeitig fehlt es den Menschen an konkretem Wissen, was das Alltagsradeln betrifft. Für uns Radfahrer:innen ist es selbstverständlich, dass wir morgens schauen, ob es regnet und wenn ja, ziehen wir eine Regenjacke an. Aber wenn ich bisher gar nicht mit dem Fahrrad gependelt oder überhaupt im Alltag unterwegs gewesen bin, habe ich im Zweifel gar keine Regenjacke. Denn ganz ehrlich: Fahrrad-Regenjacken sind jetzt auch nicht das schickste Kleidungsstück. Und dann nimmt man eben wieder das Auto.


Wie können Routinen durchbrochen werden?
Wir wissen aus der Forschung, dass sich Gewohnheiten nur ganz schwer durchbrechen lassen. Wenn, dann bieten sich vor allem biografische Umbruchsituationen wie zum Beispiel ein Umzug an. Dann ändern sich auf einmal die täglichen Wege und ich überdenke dann auch meine Mobilität. Diese Momente gilt es zu nutzen. München macht das zum Beispiel. Das Mobilitätsreferat bietet ein persönliches Willkommenspaket an, wenn man sich in der bayerischen Landeshauptstadt neu anmeldet. Das enthält dann neben Netzplänen von Bus und Bahn auch einen Radlstadtplan.

Auch Angebote von Arbeitgeber:innen, die das Pendeln mit dem Rad finanziell anreizen, funktionieren. Sei es über ein Fahrradleasing, Zuschüsse für Fahrradtaschen oder Gutscheine für den Besuch von Thermen bei der Nutzung des Rads oder ähnliches. Diese Belohnungstaktik hilft vor allem jenen, die schon überlegen, ihr (Zweit-)Auto stehen zu lassen oder abzuschaffen. Wichtig ist auch, den Menschen nicht nur das Fahrrad an die Hand zu geben, sondern auch das Wissen, wie man gut mit dem Fahrrad pendelt. Dass zum Beispiel eine Regenhose sinnvoll ist und es sich mit einer Fahrradtasche deutlich bequemer fährt auf dem Rad als mit einem Rucksack.

Portrait von Professorin Dr. Claudia Hille vor einem Bücherregal.
Prof. Dr. Claudia Hille © Fotoloft Erfurt

Prof. Dr. Claudia Hille hat eine der sieben ersten Radverkehrs-Professuren Deutschlands inne. Sie forscht und lehrt seit März 2024 an der Hochschule Karlsruhe (HKA) zum Radverkehr mit Schwerpunkt auf der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung. Gefördert vom Bundesverkehrsministerium will sie ihre Stiftungsprofessur dafür nutzen, das Radfahren im Alltag vor allem auch für einkommensschwächere Einkommensgruppen attraktiver zu machen – und somit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Sie untersuchen auch, welchen Einfluss die Sozioökonomie auf die Verkehrsmittelwahl hat. Können Sie das erläutern?
Bei den sozioökonomischen Faktoren geht es vor allem um Einkommen und Bildung. Wir sehen, dass mit steigendem Einkommen die Radnutzung tendenziell steigt. Menschen mit geringem Einkommen nutzen das Rad seltener. Mein spezielles Forschungsinteresse gilt Menschen, die nahe an der Armutsgrenze oder unter der Armutsgrenze leben. Sie können sich weder ein Auto leisten, noch einen Fahrschein für den ÖPNV und auch: kein Fahrrad. Wir wissen aus eigener Forschung, dass diese Menschen mitunter nicht einmal Freund:innen und Familie besuchen oder zum Arzt fahren können, weil sie sich schlicht die Wege dorthin nicht leisten können. Damit ist diese Gruppe von der gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe abgekoppelt. 

Mir geht es darum, zu erforschen und dann aufzuzeigen, wie wir Menschen über eine bezahlbare Mobilität – ob mit dem ÖPNV, dem Rad oder zu Fuß – soziale Teilhabe ermöglichen können. Erhalten Menschen Zugang zu Mobilität, erhalten sie auch ein Stück Selbstbestimmung zurück. Ich finde es eklatant und fast schon unwürdig, dass wir in Deutschland nicht in der Lage sind, Menschen diese grundlegende Mobilität zu ermöglichen.


Was kann getan werden, um Menschen an der Armutsgrenze soziale Teilhabe durch das Fahrradfahren zu ermöglichen?
In den ganz niedrigen Einkommensgruppen fehlen tatsächlich die finanziellen Mittel, um sich dieses relativ günstige Verkehrsmittel überhaupt anschaffen zu können. Geschweige denn Fahrradtaschen, Kindersitz oder Helm. Es fehlt oft auch das Wissen, wie man ein Fahrrad selber repariert. Auch Fahrradwerkstätten sind für die ganz niedrigen Einkommensgruppen zu teuer. Hier geht es darum, kostengünstige und niedrigschwellige Angebote zu schaffen, die das Radfahren und damit eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. 

Das kann man machen über Selbsthilfe-Werkstätten für die Radreparatur und über Fahrrad-Lernkurse, Verkehrserziehung und Mobilitätsbildung nicht nur für Kinder, sondern auch für ihre Eltern und Großeltern. Und natürlich darüber, dass man zum Beispiel Fahrrad-Gutscheine verteilt. Da geht es nicht um das super tolle neue Fahrrad für 4.000 Euro, sondern es geht um Fahrräder, die gebraucht auch noch völlig in Ordnung sind. Es gibt sehr viele gebrauchte Fahrräder, die gut ertüchtigt werden könnten, um sie Menschen zur Verfügung zu stellen, die sich ein neues Rad nicht leisten können. Politisch gesehen gilt es hier beispielsweise, die vielen tollen ehrenamtlichen Initiativen, die es in diesem Feld schon gibt, auch finanziell und personell gezielt zu unterstützen.


Auch die politische Kultur hat Ihren Forschungen zufolge Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl, inwiefern?
Wenn man beispielsweise in die Niederlande schaut und das Königspaar öffentlich Fahrradfahren sieht, hat das eine politisch-kulturelle Wirkung – es geht also auch um Vorbilder. Wir haben zwar kein Königspaar, aber wir haben Politikerinnen und Politiker. Doch auf Bundes- und Länderebene ist ein radfahrender Politiker bzw. eine radfahrende Politikerin ein sehr seltenes Bild. Wir leben im Gegensatz zu den Niederlanden, die keine Autoindustrie hat, in einem klassischen Autoland. Die Automobilindustrie hierzulande prägt unsere Mobilitätskultur. 

Das zu durchbrechen, ist nicht einfach. Auch weil Autos nicht nur auf unseren Straßen präsent sind, sondern z. B. auch in Kinderbüchern, als Spielzeug, in Filmen und Serien. Deswegen ist der Einsatz der Kommunalpolitiker:innen hervorzuheben, die sich am jährlichen Stadtradeln beteiligen. Sie legen, gemeinsam mit möglichst vielen Menschen aus ihrer Kommune, in einem vorgegebenen Zeitraum möglichst viele Kilometer mit dem Fahrrad zurück. Das verschafft dem Fahrrad Sichtbarkeit und erhöht dessen Stellenwert in der Mobilitätskultur der Region.


Ihre und die anderen Stiftungsprofessuren werden nur für wenige Jahre vom Verkehrsministerium gefördert – wie geht es danach weiter?
Zunächst ist es natürlich absolut zu begrüßen, dass die Stiftungsprofessuren eingerichtet wurden, sie zeigen, welchen Stellenwert der Radverkehr für die Verkehrswende hat. Die so ermöglichte Forschung und Lehre trägt u. a. dazu bei, die teils sehr emotional geführte Debatte um das Fahrradfahren und den Ausbau der Radinfrastruktur zu versachlichen. Wichtig ist, dass die Stiftungsprofessuren auch eine Perspektive über die Anschubfinanzierung des Bundesverkehrsministeriums hinaus haben. Alle Hochschulen mussten sich verpflichten, die Professuren im Anschluss zu verstetigen. 

Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage an den Hochschulen fehlt aber vielerorts das Geld, auch das dazugehörige wissenschaftliche Personal dauerhaft zu finanzieren. Ein Problem, dass die Hochschullandschaft in Deutschland ja generell prägt und die Perspektive von jungen Wissenschaftler:innen mitunter trübt. Damit besteht immer auch die Gefahr, dass wertvolle Expertise verloren geht, von der vor allem auch die Studierenden an den Hochschulstandorten und damit ja auch die Fachkräfte von morgen vielfach profitieren könnten. Hier wünschen wir uns als Stiftungsprofessuren auch künftig Unterstützung von Bund und Ländern sowie eine beständige Förderlandschaft, damit wir das im nationalen Radverkehrsplan anvisierte Ziel, Deutschland zum Fahrradland zu machen, auch erreichen.

Wir danken für das Gespräch! 

Interview: Almut Gaude


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